Ein Schlauchboot mit Migranten will den Ärmelkanal queren, um es auf die britische Insel zu schaffen. Zuletzt sind viele nach Irland weitergereist.
AFP/SAMEER AL-DOUMY

Noch ehe der erste Flieger Richtung Afrika abhebt, sorgt Londons Ruanda-Politik für schwere Verstimmung mit Großbritanniens nächstem Nachbarn. Die Behörden in Dublin haben zuletzt einen massiven Anstieg von Asylwerbern registriert, die aus dem britischen Teil der grünen Insel über die offene Grenze in die Republik eingereist sind. Schon droht die Regierung des frischgebackenen Premierministers Simon Harris mit einem Eilgesetz und der Rückführung der Menschen auf britisches Territorium. Kommt nicht infrage, antwortete London und sagte ein für Montag vorgesehenes Treffen der für Migrationsfragen zuständigen Minister ab.

Am Montag begannen die britischen Behörden mit der Internierung "illegaler" Flüchtlinge, die für die Abschiebung nach Ruanda vorgesehen sind. Zwar sind nach dem Eingeständnis von Premier Rishi Sunak die ersten Asylflüge frühestens im Juli zu erwarten. Doch muss der parteiintern heftig umstrittene Regierungschef bei seinem eigenen rechten Flügel sowie in der Wählerschaft dringend punkten: Bei den Kommunalwahlen am Donnerstag stehen den Konservativen massive Mandatsverluste ins Haus.

Freude bei Sunak

Auf das Verdrängungsphänomen Richtung Irland hatte vergangene Woche der für Nordirland zuständige Außenminister Micheál Martin hingewiesen. 80 Prozent der jüngst in der Republik registrierten Asylbewerber seien via Belfast eingereist. Sunak goss umgehend Öl ins Feuer: In Medien-Interviews freute er sich über die Abwanderung ins Nachbarland, schließlich beweise sie, dass die erhoffte "abschreckende Wirkung" der Ruanda-Politik bereits eingetreten sei.

Sunaks erst seit drei Wochen amtierender Kollege Harris reagierte gereizt. Natürlich habe jedes Land das Recht auf seine eigene Migrationspolitik, teilte der Taoiseach am Sonntag mit. "Aber Irland wird kein Schlupfloch bieten für die Herausforderungen, die andere Länder diesbezüglich erleben." Die bereits für diesen Dienstag zur Veröffentlichung vorgesehene Gesetzesänderung werde die Rückführung von Asylbewerbern nach Großbritannien ermöglichen.

In London freuen sich prominente Brexiteers über die Probleme mit der inneririschen Grenze, "die Irland und die EU unbedingt offen halten wollten", wie Dominic Lawson in der Daily Mail hämisch schreibt. Natürlich sollten die Regierungen zusammenarbeiten, glaubt die frühere Nordirland-Ministerin Theresa Villiers, aber: "Es ist schon lustig, dass sich Dublin über Flüchtlinge beschwert, die ursprünglich aus Frankreich kommen."

Kritik aus Belfast

Ihr eigenes politisches Süppchen an der Kontroverse kocht auch die nordirische Regierungschefin Michelle O’Neill von der katholisch-republikanischen Sinn-Féin-Partei, die im kommenden Jahr auch in der Republik an die Macht strebt. Sie sei bisher noch von keinem Dubliner Regierungsmitglied kontaktiert worden, berichtete sie und zog ihren eigenen Schluss daraus: "Da sieht man, wie unorganisiert die Regierung in dieser Frage ist." Freilich fällt die Beschäftigung mit Asylfragen in keiner Weise in die Zuständigkeit der Belfaster Regionalregierung, helfen könnte den Iren nur die Regierung in London.

Die aber will von den Nachbarschaftsproblemen nichts hören. In letzter Minute sagte der konservative Innenminister James Cleverly am Sonntagabend ein für Montag geplantes Gespräch mit der für Asylfragen zuständigen irischen Justizministerin ab. Helen McAntee strich daraufhin den geplanten London-Besuch, konzentrierte sich stattdessen auf das von Harris angekündigte Eilgesetz. Freilich steckt die Koalition nicht nur politisch, sondern auch rechtlich in der Klemme. Im März hatte der Dubliner High Court eine Rückführung von Flüchtlingen ins Nachbarland untersagt mit dem ausdrücklichen Hinweis auf Londons Ruanda-Politik. Dadurch könne das Königreich fortan nicht mehr als "sicheres Drittland" gelten.

Campen in der Hauptstadt

Wie in vielen anderen europäischen Ländern haben die Probleme rund um erwünschte und unerwünschte Migranten auch in Irland größere Prominenz bekommen. Sehr großzügig wurden nach dem russischen Überfall 2022 Tausende ukrainischer Flüchtlinge aufgenommen, die nun das Land wieder verlassen sollen. Hunderte von Asylwerbern müssen mangels geeigneter Unterkünfte in Zelten untergebracht werden, viele von ihnen campieren vor dem für sie zuständigen Amt in der Hauptstadt. Besonders im Ballungsraum Dublin herrscht ohnehin schon seit Jahren schlimme Wohnungsnot, die Obdachlosigkeit nimmt ständig zu.

Dementsprechend wächst der Druck auf die von Harris geführte Regierung. Im Juni drohen Harris’ konservativer Fine Gael sowie ihren Koalitionspartnern, der nationalliberalen Fianna Fáil und den Grünen, schwere Einbußen bei den Kommunal- und Europawahlen. (Sebastian Borger aus London, 29.4.2024)